Protestbrief: Keine Steuergelder für Geschichtsrevisionismus

27. September 2018

Mit einem Brief, verbunden mit einer offenen Petition, wenden sich Vertreterinnen von Überlebendenorganisationen, von Gedenkstätten und zeitgeschichtlicher Einrichtungen gegen eine mögliche Förderung geschichtsrevisionistischer Propaganda durch die Desiderius-Erasmus-Stiftung der AFD.

Der Brief hat folgenden Wortlaut:

Sehr geehrter Herr Bundesminister Seehofer,

mit großer Besorgnis verfolgen wir als Vertreterinnen namhafter bundesdeutscher Einrichtungen der historisch-politischen Bildung, Gedenkstätten und (internationaler) Überlebenden-Organisationen sowie als Wissenschaftlerinnen im Feld NS-Geschichte und Erinnerungskultur die geschichtsrevisionistischen Haltungen und Positionen, die von Personen aus dem Umfeld der AfD-nahen Desiderius-Erasmus-Stiftung öffentlich geäußert werden, und möchten Ihr Ministerium zum Handeln auffordern.

Aus fachlicher Sicht ist es dringend geboten, das Programm der Desiderius-Erasmus-Stiftung im Bereich historisch-politische Bildung, Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte und Erinnerungskultur einer kritischen Überprüfung durch unabhängige Expertinnen zu unterziehen. Wenn perspektivisch öffentliche Mittel für eine Stiftung ausgegeben werden, deren Vertreterinnen die Verbrechen der Nationalsozialisten verharmlosen und somit ein Geschichtsbild proklamieren, das weder den moralischen noch den wissenschaftlichen Standards genügt, konterkariert dies die langjährigen, erfolgreichen Bemühungen im Feld der Erinnerungspolitik und Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte. Für deren hohe Qualität erfährt die Bundesrepublik Deutschland im In- und Ausland enorme Anerkennung. Werden diese Bemühungen in Frage gestellt, könnte das der Demokratie in unserem Land langfristig massiven Schaden zufügen.

Ein aktueller Vorfall hat uns zu diesem Schreiben bewogen: Am Samstag, den 1. September 2018 verglich Max Otte, Vorsitzender des Kuratoriums der Desiderius-Erasmus-Stiftung, auf Twitter die „Vorfälle von Chemnitz“ mit dem Reichstagsbrand vom Februar 1933:

> Werden die medial völlig verzerrt dargestellten Vorfälle von #Chemnitz zum neuen #Reichstagsbrand zum Auftakt der offiziellen Verfolgung politisch Andersdenkender? #Meinungsterror #Afd #Freiheit #Demokratie <

Mit dieser rhetorischen Frage setzt Herr Otte Rechtsradikale und Neo-Nazis, die in den vergangenen Tagen in Chemnitz People of Colour, Migrantinnen und Journalistinnen gewaltsam angegriffen und bedroht haben, mit den Verfolgten des Nationalsozialismus gleich. Dabei handelt es sich um einen doppelten Fall von Täter-Opfer-Umkehr und um eine Relativierung der Verbrechen der Nationalsozialisten. Darüber hinaus bedient der Tweet das antisemitische Ressentiment von den angeblich gesteuerten, die Wahrheit verzerrenden Medien. Im Falle eines erneuten Einzugs der AfD in den Bundestag würden der Desiderius-Erasmus-Stiftung perspektivisch ab 2022 Mittel in Form der Globalzuschüsse aus dem Haushalt Ihres Ministeriums gewährt.

Wir wehren uns entschieden dagegen, dass aus Steuergeldern eine Stiftung finanziert wird, die ein Geschichtsbild proklamiert, das NS-Verbrechen verharmlost.

Wir fordern daher die Desiderius-Erasmus-Stiftung auf, ihr Programm im Bereich historisch-politische Bildung, Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte und Erinnerungspolitik offenzulegen und von unabhängigen Expert_innen prüfen zu lassen.

Wir möchten Sie in Ihrer Funktion als Bundesminister des Innern mit Nachdruck darum bitten, diese Forderung durchzusetzen und als Kriterium für mögliche Zuschüsse aus Ihrem Haushalt heranzuziehen. Wir erleben derzeit einen erstarkenden Rechtspopulismus, mit dem ein neues Selbstbewusstsein rechtspopulistischer Akteurinnen einhergeht sowie eine besorgniserregende Normalisierung geschichtsrevisionistischen Gedankenguts durch das Führungspersonal der AfD („Denkmal der Schande“, „Vogelschiss“).Vor diesem Hintergrund stehen Gedenkstätten und Einrichtungen der historisch-politischen Bildung zunehmend unter Druck. Holocaustrelativierung und die Verhöhnung der Opfer des NS finden inzwischen vermehrt auch an den Orten der Erinnerung und des Gedenkens statt – wie dies zuletzt der Besuch einer AfD-Gruppe aus dem Wahlkreis von Fraktionschefin Alice Weidel in der KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen auf erschütternde Weise illustriert: Im Rahmen des vom Bundespresseamt finanzierten Besuchs wurden von Teilnehmerinnen die Existenz von Gaskammern in Zweifel gezogen, die KZ-Verbrechen relativiert und verharmlost.

Begründung

Die politischen Stiftungen, die als Reaktion auf das Scheitern der Weimarer Republik im postnationalsozialistischen Deutschland etabliert wurden, leisten einen wichtigen Beitrag zur gesellschaftspolitischen und demokratischen Bildung in Deutschland und sollen ein möglichst breites Publikum erreichen; dafür werden ihnen öffentliche Mittel in Form der Globalzuschüsse aus dem Haushalt des Bundesministeriums des Innern gewährt. Mit der staatlichen Förderung der Desiderius-Erasmus-Stiftung wird das zweifelhafte Geschichtsbild, welches von ihrem Führungspersonal vertreten wird, nicht nur eine offizielle Anerkennung finden, sondern perspektivisch weite Teile der Bevölkerung in einem gesellschaftspolitischen Klima erreichen, in dem es ohnehin bereits möglich ist, die Existenz der Shoa offen anzuzweifeln und zu „fake news“ zu erklären. Bleibt eine kritische Prüfung dieser Stiftung aus, setzt die Politik ein falsches Signal für die Entwicklung unserer Demokratie.

___________________________________________________________________________

Brief und Unterzeichnerinnen mit Unterschriftenliste siehe keine-steuergelder-fuer-geschichtsrevisionismus